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Liebe Leserinnen und Leser,
am Anfang hatten wir Zweifel: Kann man mit den Pilzen eine gan-
ze Ausgabe von SPEKTRUM füllen? Wir hätten es besser wissen
müssen. Bisher hat noch jede Arzneigruppe ihre ganz eigene Dyna-
mik entfaltet. Bei der Entstehung des Insektenheftes ging alles
ganz schnell und effektiv. Die Pilze dagegen kamen langsam, aber
gewaltig, nisteten sich ein und dehnten sich immer weiter aus.
Manche Beiträge wucherten ins Grenzenlose und waren kaum zu
bändigen. Zuletzt wollte noch ein Rötender Wulstling in unser be-
reits überquellendes Heft eindringen und sich über weitere 25 Sei-
ten ausbreiten.
Es ist wohl auch der besonderen Dynamik der Pilze geschuldet, dass
wir Ihnen zu diesem Thema gleich drei Übersichtsartikel anbieten,
die sich gegenseitig überschneiden und durchdringen. Die Perspek-
tiven der holländischen Masi-Gruppe, der Pflanzentheorie von Jan
Scholten und der Empfindungsmethode, dargestellt von Jörg Wich-
mann, Angelika Bolte und Ruth Wittassek, ergänzen sich aber auch
und vermitteln in der Synopse ein plastisches homöopathisches Bild
dieses faszinierenden Naturreiches. Die gemeinsamen Charakteristi-
ka und Themen sind angesichts der geringen Zahl an etablierten
Pilzarzneien der Schlüssel zu dieser bedeutenden Arzneigruppe.
Ebenso wichtig sind jedoch nach wie vor neue Arzneimittelprüfun-
gen. SPEKTRUM bringt Ihnen mit dieser Ausgabe gleich drei Prü-
fungsberichte. Dabei bietet der Beitrag von Bob Blair zu Cryptococ-
cus neoformans nicht nur einen Einblick in die Symptomatik dieses
AIDS-assoziierten Krankheitserregers, sondern er enthält auch ex-
emplarisch viele typische Pilzthemen und Empfindungen. Marco
Riefer ist bei seiner Darstellung von Candida albicans schon einen
Schritt weiter. 20 Jahre nach seiner Prüfung wird anhand klinischer
Erfahrung mittlerweile ein ganzes Arzneimittelbild deutlich.
Misha Norlands LSD-Prüfung wirft Licht auf jene geheimnisvolle
dunkle Seite der Pilze, die mit Ekstase wie mit Psychose verbunden
ist. Dazu gibt Sigrid Lindemann ein Fallbeispiel, in dem LSD sowohl
isopathisch als auch konstituionell indiziert ist. Die Differenzialdiag-
nose zu LSD ist der eigentliche Magic Mushroom, Psilocybe caerules-
cens. Annette Sneevliets Kasuistik dazu handelt aber nicht von einer
Psychose, sondern von einer Patientin mit einer speziellen Form der
Depression, dem Burnout. In der Psychiatrie untersucht und disku-
tiert man gerade die antidepressive Wirkung von Psilocybin.
Im Gegensatz zur bizarren Welt der Halluzinogene stehen im Zau-
berreich der Pilze die unscheinbaren, kargen Flechten. Diese Le-
bensgemeinschaft von Pilzen und Algen birgt einen Schatz von
Arzneien, die in der traditionellen Medizin vieler Völker eine große
Bedeutung haben. In der Homöopathie kennen wir vor allem Sticta
pulmonaria. Willi Neuhold erarbeitet in seinem Artikel die Vital-
empfindung dieser Arzneifamilie und gibt uns mit der miasmati-
schen Zuordnung die Möglichkeit, auch Mittel wie Cetraria islandi-
ca oder Cladonia rangifera in der Praxis anzuwenden.
Editorial
Natürlich dürfen bei unserem Titelthema die klassischen homöopa-
thischen Arzneien dieser Gruppe nicht fehlen, allen voran Agaricus
muscarius. Es ist kein Zufall, dass der Schwerpunkt in Mike Keszlers
Fallbeispielen auf neurologischen Störungen liegt, wirkt doch Mus-
carin, das Gift des Fliegenpilzes, an den cholinergen Synapsen des
Nervensystems. Und auf der Ebene der Signatur legt der Anblick ei-
nes Geflechtes von Pilzhyphen die Analogie zu Nervenzellen durch-
aus nahe. Auch von Secale cornutum, dem zweiten großen homöo-
pathischen Pilzmittel, kennen wir die Affinität zu den Nerven.
Andreas Holling präsentiert uns Secale allerdings als ein Mittel gegen
Haarausfall. In seiner Kasuistik führt die Empfindung des Absterbens
über das Lepramiasma zur Arznei. Bleibt noch Bovista. Durch den
ausführlichen Beitrag von Felix Morgenthaler erfahren wir auch, wie
Massimo Mangialavori die Mittelgruppe der Fungi sieht.
Mit ihrer Prüfung von Piptoporus betulinus beteiligt sich Anneliese
Barthels auf homöopathische Weise an der Diskussion um Ötzi und
den Birkenporling. Während die Wissenschaft eine halluzinogene
Wirkung der bei der Gletschermumie gefundenen Pilze ausschließt,
finden wir unter den Prüfungssymptomen durchaus Hinweise auf
eine drogenartige Arzneireaktion. Unumstritten ist, dass Pilze seit
Jahrtausenden sowohl wegen ihrer Rauschwirkung als auch wegen
ihrer Heilkräfte von Schamanen und Volksmedizinern in aller Welt
geschätzt wurden. Gleichzeitig kennt man sie als Erreger vieler läs-
tiger Hautkrankheiten, die von Sankaran zu einem eigenen Mias-
ma zusammengefasst wurden. Eine Kasuistik von Ruth Wittassek
zeigt dieses Ringworm-Miasma in seiner Eigenart.
Als Zauberpflanzen, die heilen, berauschen, aber auch krank ma-
chen können, sind Pilze für die Homöopathie von besonderem In-
teresse. Wenn sie mit dieser Ausgabe von SPEKTRUM in Ihre Praxis
eindringen und sich dort ausbreiten, dann hoffentlich zum Wohle
Ihrer Patienten.
Christa Gebhardt & Dr. Jürgen Hansel
Chefredaktion
Pilze
Editorial
Spektrum der Homöopathie
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