EDITORIAL
Christa Gebhardt & Dr. Jürgen Hansel
Chefredaktion
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EDITORIAL
SPEKTRUM DER HOMÖOPATHIE
Liebe Leserinnen und Leser,
haben Sie Angst vor Spinnen? Ekelt Sie der Kontakt mit einem
Spinnennetz? Wenn ja, dann sind Sie nicht allein. Die Arachno-
phobie ist bei weitem die häufigste unter den Tierängsten. Und
Ekel wird ja nicht umsonst gerne spontan mit dem Ausruf „Pfui
Spinne!“ ausgedrückt. Diese übersteigerte Aversion lässt sich
nicht durch die reale Gefahr erklären, die von Spinnen ausgeht.
Wie Massimo Mangialavori in seinem Beitrag über die Mytho-
logie betont, sind mit dem Archetyp der Spinne seit der An-
tike hinterhältige Machtausübung, Gewalt und eine aggressive
dunkle Sexualität verbunden. Mit Erschütterung und Abscheu,
aber auch mit großem Mitleid haben wir manche Beiträge dieser
SPEKTRUM-Ausgabe aufgenommen. Immer wieder geht es um
bösartige Attacken, sexuellen Missbrauch, Mangel an Empathie
und asoziales Verhalten.
Aus den Fallgeschichten zu Skorpion- und Spinnenarzneien wird
deutlich, wie diese hochgiftige Mischung von Generation zu Gene-
ration weitergegeben wird und wie aus den Opfern wieder Täter
werden. Exemplarisch dazu Pratik Desais Kasuistik eines indischen
Mädchens, das in der Familie schwer misshandelt wurde, um dann
in der Pubertät selbst schamlos und gewalttätig zu werden. Die
schlechten schulischen Leistungen waren dann für die Eltern der
Anlass, homöopathische Hilfe zu suchen. Der Kinderarzt Andreas
Richter beschreibt, wie das typische impulsive, provokative und
aggressive Verhalten auf dem Boden schwer gestörter frühkind-
licher Bindungsmuster entsteht. Wim Roukemas erschreckende
Fallgeschichten zu Androctonus und anderen Skorpionmitteln
bestätigen diesen Befund. Von Hans Eberle und Friedrich Ritzer
lernen wir, dass der Skorpion neben einer explosiven Aggressivität
auch eine weiche und nachgiebige Seite haben kann.
Das negative Bild im kollektiven Unbewussten überdeckt die
besonderen Fähigkeiten und natürlichen Talente der Spinnen-
tiere. Wissenschaftler beneiden sie um die Bauweise, Wider-
standsfähigkeit und Haltbarkeit ihrer Netze, ohne die wir uns
vor Insekten nicht mehr retten könnten. Das Arzneimittelbild von
Tela araneae stellt Tara Cicchetti vor. Zentral ist das Gefühl, aus-
geschlossen zu sein. Zu allen Spinnenmitteln gehört der Kampf
um Anerkennung und Wertschätzung, der allerdings oft mit
unlauteren Mitteln geführt wird. Gänzlich unverfälscht lässt sich
das bei Kindern erkennen. Ihr Spinnenwesen drückt sich in den
Fallbeispielen von Markus Kuntosch und Nancy Herrick unmit-
telbar in ihrem Verhalten, ihren Zeichnungen oder Phantasien
aus. Klettern an Seilen, Fallen Bauen, Stricken, Tricksen, Necken
und Provozieren können bei Kindern mit hektischer Unruhe,
Tics, ADHS oder Verhaltensstörungen direkt zur Arzneigruppe
der Arachnida führen, noch dazu, wenn Spiderman ihr Held ist.
Jonathan Hardy hat für uns die Varianten der typischen Spin-
nenthemen herausgearbeitet. Seine kurzen Anamneseclips ma-
chen uns mit der Sprach- und Gedankenwelt dieser Patienten
vertraut. Auf dieser Basis ist es nicht schwierig, die Arzneiklasse
auch in den Beiträgen anderer Autoren zu erkennen. Weniger
einfach ist die Identifizierung der genauen Spezies. Dieses Pro-
blem kennen die homöopathischen Pharmazeuten seit Langem,
wie Jörg Wichmann in seinem Beitrag zur Systematik berichtet.
So reicht Herings Beschreibung „groß, braun und nicht sehr gif-
tig“ kaum aus, um die Identität von Tarentula cubensis zu klären.
Gerhard Ruster verordnet diese nicht von einer Tarantel, sondern
von einer Vogelspinne stammende Arznei in seiner Praxis bei
Patienten mit einem besonderen Bezug zu Tod und Sterben.
Wie schwierig die präzise Arzneiwahl sein kann, beschreibt
Bhawisha Joshi an einer Kasuistik mit Mygale lasiodora als Fol-
geverordnung zu Aranea diadema. Für Joshi wie für die meisten
anderen Autoren sind es letztlich die repertorisierbaren kör-
perlichen Symptome, die zur optimalen Spinnenarznei führen.
Das gilt vor allem für bekannte Mittel, wie die Fallbeispiele
von Jürgen Weiland zu Latrodectus mactans und von Deborah
Collins zu Mygale lasiodora und Theridion zeigen. Bei neuen
Arzneien wie in Sigrid Lindemanns Fall der Zitterspinne und der
von Olga Fatula geprüften Seidenspinne kann die Signatur eine
Mittelidee liefern, die dann durch Prüfungssymptome bestätigt
werden muss.
In den Beiträgen dieses Heftes stehen psychische Störungen
eindeutig im Vordergrund. Das Spektrum reicht dabei von
ADHS, Autismus und dissozialem Verhalten bei Kindern und
Jugendlichen bis zu Panikattacken, Borderline und Depressionen
mit Suizidalität bei Erwachsenen. Es ist erstaunlich, was eine
homöopathische Behandlung auch in solchen Fällen schwerer
Bindungsstörungen und massiver Psychopathologie erreichen
kann. Auch wenn Sie die Betroffenen nicht von ihren Traumata
heilen können, helfen Sie ihnen mit Skorpion- oder Spinnen-
mitteln, ruhiger, weniger aggressiv und zugänglicher zu werden
und sich so besser in die Gesellschaft zu integrieren. Bei Kindern
bessern sich häufig mit dem Sozialverhalten auch die schulischen
Leistungen. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg!
SPINNEN UND SKORPIONE